Ruhnn - der Zaubertrank für chinesische Influencer. Was kann der Westen lernen?
Plus: Matzes Husarenstück - wie sich Jimdo neu erfand
Hallo zusammen,
ich sitze im ersten entspannten Urlaub des Jahres, an der Ostsee in Heiligenhafen. Parallel kann ich die Menschen auf der Strandpromenade beobachten und über E-Commerce schreiben. Das Leben ist gut.
Zum Inhalt:
Ruhnn - der Maschinenraum für die Zukunft des Influencer Marketings
China hat inzwischen mehr als 802 Millionen Internetnutzer - das sind mehr Einwohner als Europa. Damit ist China der weltweit größte Social Media Markt und Vorreiter beim Thema Influencer. Der chinesische Influencer-Markt wird auf eine Marktgröße von 15,8 Milliarden Euro geschätzt, etwa 30 Mal so hoch wie die Influencer Branche in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Chinessische Influencer - in China KOLs (Key Opinion Leader) oder Wanghongs genannt - bewegen Umsätze, auf die ihre westlichen Counterparts nur neidisch gucken können. Ein Beispiel: Das ehemalige Model Zhang Dayi, ein Influencer Superstar, setzte am Singles Day in der ersten halben Stunde in ihrem Taobao-Shop 15 Millionen Euro um.
Ein Grund für den Erfolg: Mehr als 60 Prozent der chinesischen Verbraucher sind für Online-Beeinflusser empfänglich, verglichen mit 49 Prozent in den USA und 38 Prozent in Japan.
“[Chinese consumers] have been through all sorts of scams, fake companies, fake products, fake services, etc. They have reached a point where they don't trust what a brand says about itself,” said Hamza Ouarit, marketing director at Shanghai-based Gentleman Marketing Agency.
Kein Wunder also, dass Influencer Top-Berufswunsch junger Frauen ist. Angeblich züchten über 200 Influencer-Inkubatoren, auch KOL-Klonfabriken genannt, wie am Fließband junge Mädchen zu Wanghongs heran, inklusive Trainingscamps und Schönheitsoperationen.
Ruhnn - Influencer entwickeln, Operations übernehmen
Einer der größten Inkubatoren ist Ruhnn. Ruhnn wurde 2014 von Feng Min gegründet, einem ehemaligen Onlineshop Besitzer. Er erkannte früh, dass Influencer einer der effektivsten Wege sind, online zu wachsen. 2016 stieg Alibaba für 45 Mio. USD bei Ruhnn ein, 2019 ging Ruhnn in New York an die Börse. Das Unternehmen wird derzeit mit ca. 150m USD bewertet.
Ruhnn unterstützt KOLs groß zu werden, als eine Art Full-Service Agentur. Sie haben 159 KOLs exklusiv unter Vertrag, die wiederum über 220+ Millionen Fans auf den Social Media und E-Commerce Plattformen erreichen. Diese Influencer verkaufen dort ihre eigenen Produktlinien.
Ruhnn erzielt seinen Umsatz über zwei Modelle:
Full-Service Modell: Hier übernimmt das Unternehmen die gesamten E-Commerce Operations für den Influencer, für eine Provision von 10% der Sales. Der Onlineshop wird betrieben, Produkte werden entwickelt und Ruhnn übernimmt die Logistik. Ein Beispiel ist die Zusammenarbeit mit Zhang Dayi, der Top-Influencerin in China.
Ruhan mostly helps Zhang on the business side, including supply chain management, fabric purchases, design and pattern-making, manufacturing and production. Zhang, on the other hand, devotes most of her efforts to follower acquisition and retention, and promoting her products.
Plattform Modell: Im Plattform Modell bietet Ruhnn seinen Zugang zu den KOLs anderen Shops und Marken an. Von den Umsätzen behält Ruhnn 40% ein.
Ruhnn ist mit dem Full-Service Modell gestartet, schiftet die Ressourcen zunehmend auf das Plattform Modell, welches deutlich weniger kapitalintensiv ist. Zum Vergleich: Vor einem Jahr betrieb Ruhnn noch das Full-Service Modell für 14 KOLs, Ende März 2020 waren es nur noch drei KOLs.
Im letzten Geschäftsjahr setzte Ruhnn 183m USD um, ein Anstieg um 19% zum Vorjahr. Der Hauptwachstumstreiber ist das “neue” Plattform-Modell, dessen Umsätze sich im letzten Jahr verdoppelt haben. Durch dieses Wachstum erhöhte sich auch die operative Marge auf 38%. Das Unternehmen schreibt noch Verluste, ist aber Cashflow positiv.
Spannend: ein Großteil der operativen Ausgaben geht in Sales & Marketing (43m USD), insbesondere die “Inkubation” von neuen KOLs und die Betreuung der Superstars.
Sales and marketing expenses consist primarily of expenses for KOL incubation, cultivation, content production and training, and personnel costs of related support teams, for the Company’s platform KOLs, as well as expenses incurred for the Company’s advertising, marketing and brand promotion activities and personnel costs of related operation team under the full-services model.
Die Zukunft des Influencer Marketings
In der westlichen Welt generieren Influencer geringere Umsätze als in China. Sie hinken ihren chinesischen Pendants bei Reichweite, E-Commerce Umsätzen und Professionalität hinterher. Dafür gibt es mehrere Gründe:
Unterschiedliches Konsumentenverhalten: Chinesische Konsumenten sind offener für Werbung durch Influencer.
Weniger Konkurrenz durch Werbeplattformen: In den USA erzielen Werbetreibende eine sehr gute Rendite aus der Google- und Facebook-Werbung. In China gibt es kein direktes Äquivalent, ein Großteil des Social Media Budgets wird in Influencer Kampagnen umgeleitet. Budget-Töpfe für Influencer sind damit größer als hier.
Enge Verknüpfung zwischen Social Media und E-Commerce: Content Plattformen schütteten wenig/kaum Werbeerlöse an Inhalteersteller aus. Chinesische KOLs waren von Anfang an gezwungen, sich alternative Erlösströme zu suchen. Im wesentlichen E-Commerce.
Dabei hilft eine direkte Integration von Kaufmöglichkeiten in WeChat und andere Plattformen.
For example, Chinese social media platforms like WeChat and Douyin allow product links inside their apps. Users can open the links, select an item and pay for it while they are reading a post or watching a video. In contrast, an Instagram influencer cannot embed a URL in a post.
More than 70 per cent of Chinese Gen Z consumers, those born after 1995, prefer buying products directly via social media than through other channels, compared with the global average of 44 per cent, according to a recent study by the consulting firm Accenture.
Diese Umstände erklären warum sich das chinesische Modell bisher nicht einfach nach Europa und in die USA übertragen ließ.
Bis jetzt!
Das ändert sich zunehmend mit direkten Kaufmöglichkeiten via Social Media - namentlich Facebook Shops, Instagram Checkout oder Bezahlen via WhatsApp (in Brasilien). Influencer, die Storytelling beherrschen, werden in meinen Augen zukünftig mehr an Sales und Conversions gemessen werden, als an Reichweite, Likes oder Interaktionen.
Influencer Commerce Agenturen - neues Buzzword (?) - können bei den operativen Aufgaben unterstützen, um auf ein ähnlich operatives Niveau zu kommen wie die chinesischen Counterparts:
Being an expert at generating online engagement not only helps Zhang grow and maintain her fan base but also serves as a significant way for Zhang to gauge the preferences of her followers (who are also, ultimately, her customers) to the products that she sells. By collecting enough customer feedback in the comments sections, she further helps her team estimate the number of products that they should produce, effectively reducing the burden on their inventory management.
Inventory overstocking has long been a conundrum for many retailers. In Zhang’s case, her team utilizes big data analytics to measure consumer sentiment towards newly released products. In addition, from time to time, Zhang holds flash sales and takes pre-orders.
Es ist nur eine Frage der Zeit bis Ruhnn-ähnliche Unternehmen in Deutschland aufpoppen. In der deutschen Agenturszene finde ich bislang keine größeren Agenturen mit der Spezialisierung auf E-Commerce.
Fazit - Vorreiter, aber kein überzeugendes Unternehmen
Jochen schwärmte für Ruhnn und schrieb auf Exciting Commerce:
Wie könnte im E-Commerce ein Full-Service-Modell für die wachsende Zahl an Influencern aussehen, die eigene Produkte und Kreationen anbieten wollen? Das zeigt Ruhnn, einer der spannendsten Börsengänge des letzten Jahres („Ruhnn, a Chinese startup that makes influencers, raises $125M in U.S. IPO“):
Ich bin überzeugt, dass sich das Geschäftsmodell Influencer auch in Euopa nach einem chinesischen Vorbild weiterentwickeln wird, dass E-Commerce eine dominante Rolle spielen wird und Content Kooperationen in den Schatten stellt.
So sehr ich Ruhnn für den Influencer-Markt in China wegweisend finde, so wenig überzeugt mich das Unternehmen Ruhnn. Mein Geld würde ich nicht in Ruhnn investieren.
Drei Punkte halten mich davon ab:
Kein Burggraben: Was Ruhnn von den über 200 anderen Inkubatoren unterscheidet, ist ein hohes professionelles Niveau der Arbeit. Ein professionelles Niveau können aber andere Unternehmen über die Zeit erreichen, gerade über eine höhere Spezialisierung. Etwas, was im Moment passiert, der KOL-Markt wird fragmentierter. Der einzige Burggraben bleiben die unter Vertrag stehenden KOLs, die vertraglich an Ruhnn gebunden sind, meist über 5 Jahre. Aber was passiert nach diesen fünf Jahren? Ist eine bestimmte Umsatzhöhe erreicht, verbessert sich die Verhandlungsposition der KOLs.
Hohe Abhängigkeit von einzelnen Influencern: Über 50% des Umsatzes von Ruhnn der letzten 3 Jahre ist direkt abhängig von Zhang Deyi. Fun fact: Um sie zu halten, hält Zhang Seyi einen Anteil an Ruhnn und ist CMO des Unternehmens. Durch eine noch stärker werdene Konzentration auf einige wenige Top-Stars im Fullservice-Modell steigt die Abhängigkeit kurzfristig. Mittelfristig kann das robustere Plattform Modell Abhilfe schaffen.
Schwer skalierbar: Die beiden oberen Punkte begrenzen das Wachstum. Bestehenden Influencer können nicht unbegrenzt viele Produkte verkaufen/Marken bewerben, ohne ihre “Authentizität” zu verlieren. Gleichzeitig kann Ruhnn nicht die Anzahl der KOLs beliebig skalieren. Sie sind abhängig von einigen wenigen Influencern.
Ich bin überzeugt, dass wir auch in Europa und den USA Unternehmen nach dem Vorbild von Ruhnn sehen werden - für die Plattform Facebook. Als riesige Wachstumsstory sehe ich weder Ruhnn noch Unternehmen in der Art von Ruhnn. Das macht sie keinesfalls zu schlechten Unternehmen, es macht sie nur nicht zu attraktiven Investments.
Lesetipp: Matzes Husarenstück - die Transformation von Jimdo
Jimdo - lange Zeit das hippste Unternehmen in Hamburg, das Startup, zu dem andere Unternehmen aufschauen. Dann kam in 2016 der große Knall. 25% der Mitarbeiter mussten das Unternehmen verlassen. Auch wir bei shopping24 haben dankend Mitarbeiter*innen von Jimdo übernommen.
Was damals passierte und wie Jimdo aus einer relativen Position der Stärke - das Unternehmen wuchs und war die meisten Jahre seiner Geschichte profitabel - seine Geschäfte neu ordnete, darum geht es im heutigen Lesetipp: “Matzes Husarenstück” aus der BrandEins, Ausgabe 06/2020. (noch hinter der Paywall)
Jimdo stellt einen Website-Baukasten für KMUs bereit. Gründer und CEO Matthias Henze, Matze genannt, schreibt über Jimdo:
Wer hilft eigentlich Selbstständigen und kleinen Unternehmen, dass die Digitalisierung für sie zum Erfolg wird? Wir kennen ihre Herausforderungen und entwickeln Online-Lösungen, mit denen sie die Digitalisierung in eigene Hände nehmen und erfolgreich durchstarten können.
Jimdo war lange Zeit Markführer mit Webbaukästen, verlor dann aber durch ineffiziente interne Prozesse und lange Entwicklungszeiten diese Position. Konkurrenzen wie Wix.com, ausgestattet mit viel Risikokapital und börsennotiert, wirkten moderner.
Jimdo musste ein Produktsegment finden, in dem sie weltweit die Marktführerschaft erlangen konnten. Dafür musste das Unternehmen neu sortiert werden. Parallel zum laufenden Geschäft baute das Unternehmen in 5 Monaten mit 6 Entwicklern ein neues Produkt auf.
Leseempfehlung, für alle die sich für operative Unternehmensführung interessieren - wie auch die gesamte BrandEins-Ausgabe.
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