#2: Gute Komplexität, schlechte Komplexität
Multi-Channel am Beispiel Amazon & Jet, BrandEins zu Komplexität
Guten Morgen,
zuerst: Danke, dass Du “Commerce Operations” abonniert hast. Die Resonanz zum letzten Newsletter war sehr positiv, das motiviert. Heute Ausgabe #2.
Zum Inhalt:
Multi-Channel am Beispiel Amazon & Jet
Geschichten zu Multi-Channel klingen oft wie die Fabel vom hässlich Entlein, nur mit unterschiedlichen Enden der Geschichte. Für Onliner bleibt das hässliche Entlein ein hässliches Entlein. Für Offliner verwandelt sich das Entlein am Ende in einen wunderschönen Schwan. Die einen sagen 1+1 = 3, die anderen sagen 1+1 = 1,5. Was sagt die Praxis? Zwei unterschiedliche Beispiele:
Amazon & Wholefoods - Online kauft Offline
Mitte 2017 kaufte Amazon den stationären Lebensmittel-Händler Whole Foods für 13,4 Mrd. USD. Viele Analysten erwarteten eine schnelle Disruption des Marktes, am der Tag Akquisition sank der Preis der Wettbewerber-Aktie Kroger um 7%.
Zwei Jahre später: eine schnelle Disruption hat sich nicht bewahrheitet. Jochen hat die Umsatz-Entwicklung von Whole Foods der letzten Jahre visualisiert. Nach einem Umsatz-Sprung im 1. Jahr, konnte Whole Foods unter neuem Besitzer kaum noch zulegen (+1%).
Amazon versucht Whole Foods für Prime-Kunden interessanter zu machen und bietet spezielle Discounts oder kostenfreie Lieferungen nach Hause an. Laut einem Bloomberg-Report mit bescheidenem Erfolg: die Anzahl der Prime-Kunden, die bei WholeFoods kauften, sank 2018 im Vergleich zu 2017.
Es ist überraschend zu sehen, dass ein so technologie-getriebener Konzern wie Amazon mit guten Operations und einem hohen Free-Cash-Flow Probleme hat, Whole Foods zu hebeln. Die Akquisition machte für den E-Commerce Giganten Sinn, um in einen neuen Markt einzutreten. Der Markt bleibt trotzdem neu und auch Amazon muss eine hohe Lernkurve durchlaufen. Amazon ist um seine Website mit zentralen Distributionszentren aufgebaut. Der Lebensmittelhandel ist um die Logistik von verderblichen Waren und dezentrale Läden aufgebaut. Ein fundamentaler Unterschied.
Sicher: Amazon plant in Dekaden, nicht kurzfristig. Für eine Bewertung ist es zu früh, gerade wenn Amazon einen so großen und wettbewerbsintensiven Markt wie Lebensmittel angeht. Und ich kann mir vorstellen, dass Whole Foods zu einer integrierten Logistik-Infrastuktur für Fleisch, Gemüse und verderbliche Produkte wird, die von den Amazon-Lieferservices genutzt wird. Nur: leicht fällt Multi-Channel auch einem Amazon nicht.
Walmart & Jet.com - Offline kauft Online
Im September 2016 kaufte Walmart Jet.com als Brutstätte für zukünftige E-Commerce Aktivitäten, um Amazon online etwas entgegenzusetzen. Trotz hoher Wachstumsraten bei Walmart: Amazon hat derzeit in den USA einen E-Commerce Marktanteil von 38%, Walmart liegt bei 5%.
In einem lesenswerten Artikel schaut Jason Del Rey von Recode hinter die Kulissen.
In September 2016, Walmart made a giant, risky bet. The country’s most dominant brick-and-mortar retailer agreed to the largest-ever acquisition of an e-commerce company: a $3.3 billion purchase of a fast-growing but money-sucking online shopping site called Jet.com. But it’s still far behind Amazon, and inside Walmart, tensions are rising.
Nach unbestätigten Meldungen schreibt der Online-Bereich dieses Jahr einen Verlust von 1 Mrd. USD bei einem Umsatz von 22-23 Mrd. USD, der Druck auf E-Commerce Chef Marc Lore steigt. Intern gibt es mehrere Probleme, neben einem Clash der Kulturen und Streit über Boni v.a. die folgenden:
Falsche Assets: Walmart verfügt über eine US-weit ausgebaute Logistik-Infrastuktur. Diese ist auf die Besonderheiten des Lebensmittelhandels ausgelegt, und funktioniert anders als die zentrale Logistik-Infrastruktur des "Everything Stores". Neben eine bestehende Walmart-Infrastruktur müsste eine zweite E-Commerce Infrastruktur aufgebaut werden. Das kostet Milliarden, ein Invest den aktuell weder Investoren noch das Management von Walmart tätigen möchte. Nur: ohne passende Operations ist der Wettbewerb zu Amazon schwer zu gewinnen.
Konkurrierende Initiativen: Der US-CEO Greg Foran möchte Geld in bestehende Läden investieren, nicht in E-Commerce oder die Akquisitionen von Bonobos, ModCloth oder Eloquii. Ein Klassiker des "Innovators Dilemma": Die Etablierten werden neue Ideen in der Wiege verhungern lassen, um das zu erhalten, was bereits funktioniert, was wiederum zu ihrem endgültigen Untergang führt.
Aber: es gibt in meinen Augen nachvollziehbare Gründe, die gegen ein weiteres Invest in direkt gegen Amazon gerichtete Online-Aktivitäten sprechen. Walmart ist aus Investoren-Sicht nicht das Vehikel für E-Commerce. Und das Management kann seine stationäre DNA nicht verleugnen. Warum auch? Niemand betreibt stationäre Läden in der Größenordnung so professionell und auf so profitableren Niveau wie Walmart.
Online muss Walmart Geschäftsmodelle finden, in denen bestehende Assets (Läden, bestehende Logistik) ein Vorteil sind, kein Bremsklotz am Bein. Beispiel: der Lebensmittel-Lieferservice von Walmart, der scheinbar dynamischer wächst als der von Amazon.
Fazit - DNA lässt sich nicht vermischen
Meine Perspektive ist die eines Offline-Laiens, ich habe wenig Ahnung vom stationären Handel. Aus den Cases lässt sich für mich eine triviale Gemeinsamkeiten herauslesen: Offline DNA != Online DNA. Scheinbar lassen sich beide DNAs schwer in einem Unternehmen vereinen.
Online und Offline werden komplett anders gemanagt. E-Commerce kommt auf einer Welt, in der es keine Beschränkungen gibt, in der neue Produkte zu (quasi) null Grenzkosten aufgenommen werden können. Stationäre müssen aus physischen Beschränkungen und wenig Verhaltensdaten das Beste machen, müssen über eine Sortiments-Kompetenz verfügen. Sie können das Angebot (Supply) besonders gut managen, während viele Onliner durch ein gutes Marketing- und CRM-Verständnis die Nachfrage (Demand) gut managen können.
Es gibt kein mir bekanntes Beispiel, in dem in einem Unternehmen beide DNAs gleichmäßig verankert sind, zumindest nicht an den relevanten Stellen.
Eine meiner Grundthesen zum E-Commerce ist:
E-Commerce wird komplexer- mit mehr relevanten Kanälen und Endgeräten. Das Managen von Komplexität wird eine relevante Dienstleistung bleiben.
Im Artikel "E-Commerce Spielfeld" habe ich dargelegt, dass gleichzeitig die Anzahl der Marketing-Känale und die Anzahl der verfügbaren Endgeräte steigt. In sich wird jeder Kanal technischer und komplexer, kann nur durch Unmengen von Daten sauber gesteuert werden. Das E-Commerce Spielfeld wird größer, und das um den Faktor 10, 100 oder 1.000. Selbst professionelle E-Commerce Händler tun sich schwer diese Komplexität zu managen.
Gleichzeitig steigen die Anforderungen an stationäre Händler: Frequenz-Rückgänge in den Fußgängerzonen müssen u.a. durch Events ausgeglichen werden. Manche Einkaufszentren bauen sich sogar eine Surf-Welle in die Immobilien, um der Ausgehpunkt für die Familie zu werden.
Multi-Channel-Händler müssen beide wachsenden Spielfelder gleichzeitig managen, in beide Bereiche investieren. Das wird schwer möglich sein - sowohl finanziell als auch ressourcenseitig. Durch eine dominierende Unternehmens-DNA werden Investments in einen Bereich bevorzugt. Der andere Bereich fällt zurück und kann schnell zum Bremsklotz werden.
Wie kann also Online & Offline gemeinsam funktionieren: Ich mag Ansätze, die dies gar nicht versuchen in beiden Kanälen voll mitzuspielen und ihrer DNA - entweder Offline oder Online - treu bleiben. AboutYou sieht seine Läden (Edited u.a. in Hamburg, Berlin) als Marketing-Kanal für die Neukunden-Akquise und Branding. An KPIs für diese Aufgaben müssen sich die Läden auch messen. An der Online-DNA von About You ändert sich durch die Ladengeschäfte nichts. Niemand käme auf den Gedanken aus About You ein Multi-Channel-Unternehmen zu machen.
Leseempfehlung: Gute Komplexität, schlechte Komplexität
In den vergangenen 10 Jahren habe ich im Unternehmensumfeld gearbeitet und war für Start-Ups aktiv. Wenn es um die Lösung von Problemen ging, war eine häufige Antworten: "Wir müssen die Komplexität reduzieren." Und häufig ist diese Antwort richtig, Komplexität ist oft einfach unnötig und macht das Leben schwer. Aber nicht immer!
Bei shopping24 hatten wir es uns in den letzten Jahren teilweise zu einfach gemacht, z.B. wenn es um Features auf unseren Portalen ging oder um das Design des Erlösströme. Technisch mögen Implementierungen im Frontend komplex gewesen sein, aber sie differenzieren das Unternehmen gegenüber Wettbewerbern. Diverse, vernetzte Erlösströmen machen das Geschäftsmodell schwer ganzhaft zu verstehen, für Mitarbeiter, und erst recht für Kunden. Aber es schafft eine indirekte Differenzierung zum Wettbewerb, sind einen Burggraben um das Unternehmen.
Die Aufgabe es ist: Komplexität greifbar zu machen, sie nicht abzuschaffen. Ein Loblied auf die Komplexität, auf die "gute Komplexität". Genau darum geht es im Leitartikel von Wolf Lotter der Brandeins 07/19 - Schwerpunkt Komplexität. "Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen", steht in schwarzen Fettbuchstaben auf dem weißen Cover.
Peter Drucker, ein österreichisch-amerikanischer Ökonom und Unternehmensberater, geistiger Vater der Wissensgesellschaft, schreibt 1993:
Um Wissen produktiv zu machen, müssen wir lernen sowohl den Wald als auch den einzelnen Baum zu sehen. Wir müssen lernen, Zusammenhänge herzustellen."
Die Analogie zum Wald ist hilfreich. Jahrelang war das Mittel der Wahl, um mit Komplexität umzugehen, deren Reduktion. Weniger ist mehr! Wo man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr erkennt, packt man die Kettensäge aus, bis nur noch ein Baum steht. Dann hat man keinen Wald mehr, dafür ist aber alles ordentlich und übersichtlich.
In diesem Denken sind viele von uns groß geworden, auch ich. Wenn man Komplexität nur reduziert, gräbt man sich auf Dauer selber das Wasser ab. Doch es gibt andere Möglichkeiten: Komplexität erschließen. Komplexität führt zu neuer Problemlösung, und kann Anstoß für Veränderung sein, kann zu neuen Ideen und Unternehmen führen.
Was hilft Komplexität zu managen:
mehr Daten - die bessere Verfügbarkeit und bessere Verarbeitung von Daten erlaubt Zusammenhänge besser zu verstehen. Achtung: Korrelation ungleich Kausalität - Daten erklären nicht alles.
mehr Offenheit gegenüber anderen Meinungen in Unternehmen - durch mehr Vernetzung untereinander erhalten die Zweifler, die Unangepassten, die Unbequemen eine lautere Stimme. Komplexität wird dadurch sichtbarer.
Neue Organisationsformen - neue Organisationsformen sind besser darauf ausgelegt mit Komplexität umzugehen. Die klassische Pyramide ist auf effizientes Arbeiten von definierten Problemen ausgelegt.
Den gesamte Artikel findet ihr online. Ein abstrakter, fast philosophischer Artikel, der mir geholfen hat Komplexität in einem anderen Licht zu sehen und dies auch beschreibbar zu machen. Eine Leseempfehlung!