Das E-Commerce Spielfeld – von Silos und walisischen Lebensräumen
E-Commerce ist komplex! Alles wandelt sich sehr schnell, die Zukunft ist nicht vorhersagbar und nur noch Geschwindigkeit zählt. Unternehmen müssen agiler werden.
Zuletzt lese ich viele solcher Zitate – und finde sie auch inhaltlich richtig. Nur: für Außenstehende sind (a) die Zusammenhänge zwischen den Thesen und (b) die Ursachen nur schwer greifbar. Ich kann schon verstehen, warum manches als Plattitüde abgetan wird. Geht es im E-Commerce nicht letztendlich immer noch darum Produkte zum Kunden zu bringen und zu verkaufen?
Das Spielfeld wird größer
Ja, geht es. Nur wie der Kunde zum Produkt kommt, ändert sich. Erlaubt mir ein Bild zu zeichnen. Das Bild vom Spielfeld.
Aktuell sehen wir im E-Commerce zwei parallele Entwicklungen. Die Anzahl der verfügbaren Kanäle steigt. Ebenso die Anzahl der verfügbaren Endgeräte.
Kanäle: Die Marketing-Landkarte wächst rasend: SEA, Facebook, Content Marketing, Affiliate Marketing und viele mehr. Jeder Kanal bietet mehr Einstellungsmöglichkeiten als jemals zuvor, z.B. Targeting für spezifische Zielgruppen. Die Geschwindigkeit mit der Google AdWords neue Features veröffentlicht, rechtfertigt alleine eine Vollzeitstelle zum Experimentieren. Mehr Werbefläche – z.B. Out of Home oder TV Werbung – wird digital zugänglich und über Schnittstellen technisch ansprechbar sein. Werbeflächen, die früher großen Unternehmen mit Millionenbudgets vorbehalten waren.
Endgeräte: Die guten, einfachen Desktop-Zeiten sind vorbei. „Mobile First“ ist das neue Stichwort. Aber bei Smartphones & Co. hört es nicht auf. Sprachgesteuerte Endgeräte wie Amazon Echo oder Google Home sind auf dem Vormarsch. Facebook promotet auf der F8 Konferenz Virtual Reality als aufstrebendes Device der Zukunft. Internet of Things, Autos und Smart TVs komplettieren die neuen Endgeräte-Vielfalt. Früher oder später werden auch diese Endgeräte eine Form von Marketing und transaktionale Geschäftsmodelle erlauben.
Zurück zum Spielfeld. Früher war das E-Commerce Spielfeld überschaubar. Ein paar Kanäle bespielen – SEO, SEA & Co. -, drei Endgeräte bedienen, fertig. Heute mache ich mir zusätzlich Gedanken, welchen Einfluss Conversational Commerce auf mein Geschäftsmodell haben wird. Muss ich zusätzlich meine Produkte auf Marktplätzen wie Amazon, Tencent & Co. anbieten? Wenn ja, mit welcher Strategie?
Das Spielfeld im E-Commerce wird größer. Nicht um den Faktor 2, sondern um den Faktor 10, oder 100. Niemand weiß, was die nächsten Jahre bringen werden.
Unternehmen stellt diese Entwicklung vor organisatorische Herausforderungen. Grundsätzlich sehe ich drei Optionen, zwei Schlechte und eine Gute:
Nichts tun – die schlechteste Option. Wie Alex und Florian Heinemann auf Kassenzone umfangreich ausführen.
In Summe kommen wir zu dem Ergebnis, dass es sehr schwierig ist Investments zu koordinieren und es nahezu unmöglich ist bestehende (alte) Unternehmen zu digitalisieren. Die Schlußfolgerung daraus ist, dass Unternehmen in diesem Fall beide Optionen einfach auslassen könnten, sie also „nichtstun“. Die Konsequenz laut Florian ist dann aber deren sicheres Ausscheiden aus dem Markt. Und dies ist nur eine Frage der Zeit.
Organisation mitskalieren Wenn das Spielfeld um den Faktor 10 wächst, können Unternehmen probieren über die Anzahl der Mitarbeiter zu skalieren. Das ist allerdings nur eine theoretische Möglichkeit. Kaum ein Unternehmen kann so viele gute Mitarbeiter rekrutieren, die P&L des Unternehmens würde aus dem Ruder laufen und es wäre maximal ineffizient. Es ist nicht vorhersagbar auf welche Endgeräte und Kanäle sich Mitarbeiter sinnvoll und langfristig konzentrieren sollen. Viele der möglichen Optionen auf dem Spielfeld werden nicht passen.
Warum also soll ich einen Fixkostenblock aufbauen, der ein schnelles Experimentieren behindert? Zudem verdeckt ein vorschnelles Mitarbeiterwachstum häufig ineffizienten Prozesse, oder sorgt zumindest dafür, dass ich mich mit diesen nicht kritisch auseinandersetze. Nein, ich halte es mit dem Buch Rework von Jason Fried:
Hire when it hurts. Don’t hire for pleasure, hire to kill pain. […] The right time to hire is when there’s more work than you can handle for a sustained period of time. There should be things you can’t do anymore. You should notice the quality level slipping.
Organisation umbauen Mein Favorit: die Organisation stellt sich so auf, dass sie flexibel an verschiedenen Stellen auf dem Spielfeld mit geringen Kosten experimentieren kann. Klingt nach Spread & Pray, ist aber ein Ansatz, der das Risiko des „Nichtstun“ zu minimalen Kosten abfedert.
Ich rede von autonomen, crossfunktionalen Produktteams, die auf ihrem Spielfeld selbstbestimmt agieren. Funktionierende Experimente werden fortgeführt, fehlgeschlagene Experimente werden eingestellt. Mitarbeiter sind über Sinnhaftigkeit, Autonomie und dem Wunsch zu Lernen motiviert. Hohe Motivation bei gleichzeitiger Fähigkeit schnell zu agieren ist zumindest eine gute Grundvoraussetzung für Erfolg.
Diese Erkenntnis ist nicht neu. Bereits 1999 befasst sich IBM sehr ausführlich damit, was Projekte zum Scheitern bringt und was erfolgreiche Projekte auszeichnet. Das Cynefin-Framework war geboren.
Cynefin – und warum Silos im E-Commerce nicht funktionieren können
Nein, Cynefin ist kein Kunstwort von Donald Trump. Ja, niemand weiß genau, wie das Wort richtig ausgesprochen wird. Es kommt aus dem Walisischen und kann am ehesten mit „Lebensraum“ übersetzt werden. Cynefin wurde vom Organisationsstrategen Dave Snowden im Auftrag IBMs entwickelt, der dafür vergangene Projekte studierte. Es entstand ein Framework, das Teams bei der Entscheidungsfindung helfen soll. Zusammengefasst war seine Erkenntnis: Projekte scheitern, wenn die Art des Projektes und die zugehörige Organisationsstruktur nicht zusammenpassen.
Grundsätzlich teilt Dave Snowden Projekte in vier Klassen ein:
Simple – die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung ist offensichtlich. Durch eine definierte Abfolge von Schritten kann das Problem durch „best practises“ gelöst werden.
Complicated – die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung erfordert eine Analyse und die Anwendung von Fachwissen. Durch mehrere, teils abhängige Schritte, kann das Problem gelöst werden, das Risiko ist vollkommen abschätzbar. Durch „good practice“ und eine Gruppe von Fachexperten ist ein gutes Ergebnis sicher.
Complex – die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung kann nur im Nachhinein wahrgenommen werden kann, nicht im Voraus. Es gibt habe ein Ziel, aber es ist unklar, wie genau ich dieses erreiche. Nur der nächste Schritt ist abschätzbar. Aufbauend auf dem Ergebnis des vorherigen Schrittes und dessen Erfolg, plane ich den nächsten Schritt – inkrementell und agil. Das Risiko ist nicht komplett abschätzbar, es gibt keine „best practices“, nur „emergent practice“.
Chaotic – es gibt keine Beziehung zwischen Ursache und Wirkung auf Systemebene. Ich kenne weder das genaue Ziel, noch den Weg dahin. Ich möchte mir ein neues Themenfeld erschließen. #Forschung
E-Commerce ist ein komplexes Problem. Ich kann auf ein Ziel optimieren, aber den genauen Weg erklärt mir niemand. Auch das mit dem Projekt verbundene Risiko kann vorher nicht komplett abgeschätzt werden. Das Team nähert sich agil dem Ziel. Manche Schritte werden in die falsche Richtung führen, andere bringen uns dem Ziel näher. Ich muss „Handeln – Messen – Reagieren“ – und zwar in genau dieser Reihenfolge. Kleine Experimente auf dem großen E-Commerce Spielfeld.
Und hier kommen wir genau zum Problem der klassischen Silo-Organisationen, der noch vorherrschenden Organisationsform in deutschen Großunternehmen. Silo-Organisationen können nicht das Tempo aufbauen, welches benötigt wird, um ein komplexes Ziel mit kleinen Schritten zu erreichen. In einem sich schnell wandelnden Markt, verlieren die bisher erfolgreichen Schritte an Gültigkeit. Zu langer Abstand zwischen Folgeschritten ist daher fatal für die Zielerreichung. Zurück auf Neustart!
Zusammengefasst: E-Commerce, und die Erschließung des größer werdenden Spielfelds, funktioniert nur mit agilen, crossfunktionalen Teams. Silo-Unternehmen haben langfristig keine Chance.