Das E-Commerce Spielfeld - wie organisieren sich Unternehmen?
DTC-Marken und der Wettbewerb, Komplexität im E-Commerce & Regulieren in der Tech-Welt
Hallo zusammen,
was für Tage: der Jahresabschluss bei shopping24 steht an und in der nächsten Woche findet die unsere Wohnklamotte-Konferenz statt (jetzt noch schnell eines der letzten Tickets mit 30% Rabatt sichern).
Dadurch bin ich nicht dazu gekommen, eine komplett neue Analyse zu schreiben. Viele Leser werden aber viele ältere - aber immer noch aktuelle - Stücke nicht kennen. Deshalb gibt es heute einen Klassiker zu Organisations-Strukturen für E-Commerce Unternehmen. Meine Theorie vom Spielfeld und Cynefin.
Ab Freitag bin ich im Skiurlaub und habe wieder Zeit ganz in Ruhe Themen zu analysieren. Zeit für eine aktualisierte Einschätzung zu Pinterest, Zeit für die E-Commerce Ambitionen von Facebook und Zeit sich mit dem BrandEins Artikel “Roboter, hilf!” zu beschäftigen.
Zum Inhalt:
Nachtrag: Direct-to-Customer Marken - nur was für die Nische? 🧐
Im Artikel der letzten Woche habe ich argumentiert, dass DTC-Marken wie Brandless eher ungeeignet für Risikokapital sind. Größe ist in diesem Fall kein Burggraben. Unternehmen haben durch einen hohen Umsatzdruck nicht die Zeit, E-Commerce “richtig” aufzusetzen. Der stationäre Handel ist für DTC-Marken mit Risikokapital der einzige Weg schnell in relevante Umsatzgrößen zu kommen.
Zwei Musterbeispiele waren DollarShaveClub und Harry’s - zwei Hersteller von Rasierklingen. Beide Unternehmen wurden in den letzten Jahren für über 1 Milliarde USD verkauft.
Denkste! Die FTC - die US-Wettbewerbsbehörde - hat Anfang Februar 2020 gegen Übernahme von Harry’s durch den etablierten Hersteller Edgewell geklagt. Edgewell ist wenige Tage später vom Kauf zurückgetreten. Ben Thompson analysiert den Fall sehr ausführlich im Newsletter von letzter Woche (sehr lesenswert).
Die FTC argumentiert in der Klageschrift:
Harry’s and Dollar Shave Club quickly succeeded in — and largely filled — the previously untapped online space. But the successful entry by Harry’s and Dollar Shave Club with their online Direct to Consumer (“DTC”) models did not stop the price increases by P&G and Edgewell, both of which sold their products primarily through brick-and-mortar retailers.
Significant change came when Harry’s made the first — and, to date, only — successful jump from an online DTC platform into brick-and-mortar retail. In August 2016, Harry’s launched exclusively at Target with suggested retail prices several dollars below the most comparable Schick and Gillette products, a significant discount. Harry’s arrival in Target made a substantial impact, with Harry’s immediately winning customers from Edgewell and P&G. […]
Harry’s significant entry into brick-and-mortar retail transformed the wet shave razor market from a comfortable duopoly to a competitive battleground.
Zur Größeneinordnung: laut Investorenunterlagen hat Harry’s im Kalenderjahr einen Umsatz von ~325 Mio. USD gemacht - in einem Markt, der weltweit eine Größe von 64 Mrd. USD hat. Harry’s hat damit einen Marktanteil von 0,5%. Im US-Markt wird der Marktanteil im niedrigen einstelligen Bereich liegen.
Trotz dieser relativ geringen Umsatzgröße schätze die FTC die Bedeutung von Harry’s so hoch für den Wettbewerb und für das Aufbrechen eines Duopols - Edgewell und P&G - ein, dass eine Milliardenübernahme durch den Platzhirschen untersagt wird.
Diese Entwicklung bestätigt mich in meinem Fazit: DTC-Brands sind für VCs unattraktiv - zumindest dann, wenn sie einen bestehenden Markt/Segment angreifen wollen. Wenn durch einen Eintritt von DTC-Marken in den stationären Handel der potenzielle Exit an einen (etablierten) Marktführer versperrt ist, gleichzeitig ohne den Stationärhandel relevante Umsatzgrößen kaum zu erreichen sind, stecken wir in einer Sackgasse. Das gilt immer dann,
DTC-Brands sind damit primär etwas für die Nische - oder für strategische Partner, wie Jochen schreibt. Zumindest dann, wenn diese strategischen Partner nicht die #1 oder #2 im Markt sind.
Analyse: Das E-Commerce Spielfeld
E-Commerce ist komplex! Alles wandelt sich sehr schnell, die Zukunft ist nicht vorhersagbar und nur noch Geschwindigkeit zählt. Unternehmen müssen agiler werden.
Zuletzt lese ich viele solcher Zitate – und finde sie auch inhaltlich richtig. Nur: für Außenstehende sind (a) die Zusammenhänge zwischen den Thesen und (b) die Ursachen nur schwer greifbar. Ich kann schon verstehen, warum manches als Plattitüde abgetan wird. Geht es im E-Commerce nicht letztendlich immer noch darum Produkte zum Kunden zu bringen und zu verkaufen?
Das Spielfeld wird größer
Ja, geht es. Nur wie der Kunde zum Produkt kommt, ändert sich. Erlaubt mir ein Bild zu zeichnen. Das Bild vom Spielfeld.
Aktuell sehen wir im E-Commerce zwei parallele Entwicklungen. Die Anzahl der verfügbaren Kanäle steigt. Ebenso die Anzahl der verfügbaren Endgeräte.
Kanäle: Die Marketing-Landkarte wächst rasend: SEA, Facebook, Content Marketing, Affiliate Marketing und viele mehr. Jeder Kanal bietet mehr Einstellungsmöglichkeiten als jemals zuvor, z.B. Targeting für spezifische Zielgruppen. Die Geschwindigkeit mit der Google AdWords neue Features veröffentlicht, rechtfertigt alleine eine Vollzeitstelle zum Experimentieren. Mehr Werbefläche – z.B. Out of Home oder TV Werbung – wird digital zugänglich und über Schnittstellen technisch ansprechbar sein. Werbeflächen, die früher großen Unternehmen mit Millionenbudgets vorbehalten waren.
Endgeräte: Die guten, einfachen Desktop-Zeiten sind vorbei. „Mobile First“ ist das neue Stichwort. Aber bei Smartphones & Co. hört es nicht auf. Sprachgesteuerte Endgeräte wie Amazon Echo oder Google Home sind auf dem Vormarsch. Facebook promotet auf der F8 Konferenz Virtual Reality als aufstrebendes Device der Zukunft. Internet of Things, Autos und Smart TVs komplettieren die neuen Endgeräte-Vielfalt. Früher oder später werden auch diese Endgeräte eine Form von Marketing und transaktionale Geschäftsmodelle erlauben.
Zurück zum Spielfeld. Früher war das E-Commerce Spielfeld überschaubar. Ein paar Kanäle bespielen – SEO, SEA & Co. -, drei Endgeräte bedienen, fertig. Heute mache ich mir zusätzlich Gedanken, welchen Einfluss Conversational Commerce auf mein Geschäftsmodell haben wird. Muss ich zusätzlich meine Produkte auf Marktplätzen wie Amazon, Tencent & Co. anbieten? Wenn ja, mit welcher Strategie?
Das Spielfeld im E-Commerce wird größer. Nicht um den Faktor 2, sondern um den Faktor 10, oder 100. Niemand weiß, was die nächsten Jahre bringen werden.
Unternehmen stellt diese Entwicklung vor organisatorische Herausforderungen. Grundsätzlich sehe ich drei Optionen, zwei Schlechte und eine Gute:
Nichts tun – die schlechteste Option. Wie Alex und Florian Heinemann auf Kassenzone umfangreich ausführen.
In Summe kommen wir zu dem Ergebnis, dass es sehr schwierig ist Investments zu koordinieren und es nahezu unmöglich ist bestehende (alte) Unternehmen zu digitalisieren. Die Schlußfolgerung daraus ist, dass Unternehmen in diesem Fall beide Optionen einfach auslassen könnten, sie also „nichtstun“. Die Konsequenz laut Florian ist dann aber deren sicheres Ausscheiden aus dem Markt. Und dies ist nur eine Frage der Zeit.
Organisation mitskalieren Wenn das Spielfeld um den Faktor 10 wächst, können Unternehmen probieren über die Anzahl der Mitarbeiter zu skalieren. Das ist allerdings nur eine theoretische Möglichkeit. Kaum ein Unternehmen kann so viele gute Mitarbeiter rekrutieren, die GuV des Unternehmens würde aus dem Ruder laufen und es wäre maximal ineffizient. Es ist nicht vorhersagbar auf welche Endgeräte und Kanäle sich Mitarbeiter sinnvoll und langfristig konzentrieren sollen. Viele der möglichen Optionen auf dem Spielfeld werden nicht passen.
Warum also soll ich einen Fixkostenblock aufbauen, der ein schnelles Experimentieren behindert? Zudem verdeckt ein vorschnelles Mitarbeiterwachstum häufig ineffiziente Prozesse, oder sorgt zumindest dafür, dass ich mich mit diesen nicht kritisch auseinandersetze. Nein, ich halte es mit dem Buch Rework von Jason Fried:
Hire when it hurts. Don’t hire for pleasure, hire to kill pain. […] The right time to hire is when there’s more work than you can handle for a sustained period of time. There should be things you can’t do anymore. You should notice the quality level slipping.
Organisation umbauen Mein Favorit: die Organisation stellt sich so auf, dass sie flexibel an verschiedenen Stellen auf dem Spielfeld mit geringen Kosten experimentieren kann. Klingt nach Spread & Pray, ist aber ein Ansatz, der das Risiko des „Nichtstun“ zu minimalen Kosten abfedert.
Ich rede von autonomen, crossfunktionalen Produktteams, die auf ihrem Spielfeld selbstbestimmt agieren. Funktionierende Experimente werden fortgeführt, fehlgeschlagene Experimente werden eingestellt. Mitarbeiter sind über Sinnhaftigkeit, Autonomie und dem Wunsch zu Lernen motiviert. Hohe Motivation bei gleichzeitiger Fähigkeit schnell zu agieren ist zumindest eine gute Grundvoraussetzung für Erfolg.
Diese Erkenntnis ist nicht neu. Bereits 1999 befasst sich IBM sehr ausführlich damit, was Projekte zum Scheitern bringt und was erfolgreiche Projekte auszeichnet. Das Cynefin-Framework war geboren.
Cynefin – und warum Silos im E-Commerce nicht funktionieren können
Nein, Cynefin ist kein Kunstwort von Donald Trump. Es kommt aus dem Walisischen und kann am ehesten mit „Lebensraum“ übersetzt werden. Cynefin wurde vom Organisationsstrategen Dave Snowden im Auftrag IBMs entwickelt, der dafür vergangene Projekte studierte. Es entstand ein Framework, das Teams bei der Entscheidungsfindung helfen soll. Zusammengefasst war seine Erkenntnis: Projekte scheitern, wenn die Art des Projektes und die zugehörige Organisationsstruktur nicht zusammenpassen.
Grundsätzlich teilt Dave Snowden Projekte in vier Klassen ein:
Simple – die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung ist offensichtlich. Durch eine definierte Abfolge von Schritten kann das Problem durch „best practises“ gelöst werden.
Complicated – die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung erfordert eine Analyse und die Anwendung von Fachwissen. Durch mehrere, teils abhängige Schritte, kann das Problem gelöst werden, das Risiko ist vollkommen abschätzbar. Durch „good practice“ und eine Gruppe von Fachexperten ist ein gutes Ergebnis sicher.
Complex – die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung kann nur im Nachhinein wahrgenommen werden kann, nicht im Voraus. Es gibt habe ein Ziel, aber es ist unklar, wie genau ich dieses erreiche. Nur der nächste Schritt ist abschätzbar. Aufbauend auf dem Ergebnis des vorherigen Schrittes und dessen Erfolg, plane ich den nächsten Schritt – inkrementell und agil. Das Risiko ist nicht komplett abschätzbar, es gibt keine „best practices“, nur „emergent practice“.
Chaotic – es gibt keine Beziehung zwischen Ursache und Wirkung auf Systemebene. Ich kenne weder das genaue Ziel, noch den Weg dahin. Ich möchte mir ein neues Themenfeld erschließen. #Forschung
E-Commerce ist ein komplexes Problem. Ich kann auf ein Ziel optimieren, aber den genauen Weg erklärt mir niemand. Auch das mit dem Projekt verbundene Risiko kann vorher nicht komplett abgeschätzt werden. Das Team nähert sich agil dem Ziel. Manche Schritte werden in die falsche Richtung führen, andere bringen uns dem Ziel näher. Ich muss „Handeln – Messen – Reagieren“ – und zwar in genau dieser Reihenfolge. Kleine Experimente auf dem großen E-Commerce Spielfeld.
Und hier kommen wir genau zum Problem der klassischen Silo-Organisationen, der noch vorherrschenden Organisationsform in deutschen Großunternehmen. Silo-Organisationen können nicht das Tempo aufbauen, welches benötigt wird, um ein komplexes Ziel mit kleinen Schritten zu erreichen. In einem sich schnell wandelnden Markt, verlieren die bisher erfolgreichen Schritte an Gültigkeit. Zu langer Abstand zwischen Folgeschritten ist daher fatal für die Zielerreichung. Zurück auf Neustart!
Zusammengefasst: E-Commerce, und die Erschließung des größer werdenden Spielfelds, funktioniert nur mit agilen, crossfunktionalen Teams. Silo-Unternehmen haben langfristig keine Chance.
Hörempfehlung: Competing with Spotify & Regulating Aquisitions
Im letzten Podcast von Exponent haben Ben Thompson und James Allworth über Regulierungen für Tech-Unternehmen gesprochen. Konkret geht es darum, wie Wettbewerbshüter entscheiden können, ob die Übernahme eines Startups durch ein etabliertes Unternehmen kritisch ist oder nicht.
Was total öde klingt, war eine der besten Diskussionen, die ich seit langem gehört habe!
Grundsätzlich sind Übernahmen durch Tech Giganten positiv zu bewerten. Denn sie erlauben erst, dass das Startup-System im Silicon Valley (und anderswo) funktioniert.
Eine Ausnahme liegt laut Ben und James vor, wenn durch eine Übernahme die Nachfrage - aka der Kundenzugang - auf wenige Marktteilnehmer konzentriert wird. Ein Beispiel war die Übernahme von Instagram durch Facebook. Diese Übernahme bezeichnet die Podcast-Hosts als ein Versagen der Wettbewerbshüter - auch wenn es damals schwer zu sehen war. Ohne die Übernahme wäre Instagram langsamer gewachsen und würde weniger Geld verdienen, aber wir hätten heute (wahrscheinlich) kein Duopol im Werbemarkt.
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Danke für den Support und einen tollen Tag!